Monday, 2 July 2012

GURU


Das Wort „Guru“ bedeutet im Sanskrit und anderen aus dem Sanskrit abgeleiteten Sprachen wie Hindi, Bengali und Gujarati „Lehrer“. Es bezeichnet den „Verleiher“ des Wissens, Vidya. Das Wort kommt von der Wurzel guru, welche wörtlich „schwer, gewichtig“ bedeutet. In hinduistischen Schriften selbst wird der Guru als „Vertreiber der geistigen Dunkelheit“, Avidya, interpretiert.
Ursprünglich bezeichnete man mit „Guru“ den leiblichen Vater, der die religiöse Erziehung seines Sohnes vornahm, ihn Teile des Veda lehrte und für ihn die Übergangsriten, die Samskaras, arrangierte. Bald jedoch übernahmen religiöse Spezialisten diese Aufgabe, die als Acarya (Lehrer)-Guru die Söhne der oberen drei Kasten (Varna) in vedischer Literatur, in religiösem und ethisch-sozial korrektem Verhalten, aber auch in den Realwissenschaften unterrichteten. Sie sollten in die Lage versetzt werden, durch Erfüllung des Dharma eine günstigere Wiedergeburt oder gar den Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu erlangen.
Heute steht es jedem ohne Beschränkungen hinsichtlich Kaste oder Geschlecht frei, einen Guru zu wählen. Die Gurus stammen bevorzugt, jedoch nicht zwingend, aus der Kaste der Brahmanen. So war der Guru des überaus bedeutenden hinduistischen Philosophen Shankara ein Chandala, also nach damaligen Begriffen „Unberührbarer“. Gurus werden als Nachfolger der frühzeitlichen Seher (Rishi) betrachtet, die nach traditioneller Auffassung das heilige Wissen (Veda) übersinnlich geschaut oder von den Göttern erhalten hatten. Aufgrund ihres Wissens um die heiligen Texte und Rituale gelten sie nicht nur als ideale religiöse Lehrer, sondern generell als der gesellschaftlichen Macht und Führung würdig.
Meist gibt es eine Abstammungslinie von Gurus. Die Schüler eines Gurus werden Shishya (Sanskrit „einer, der zu züchtigen ist, unterwiesen werden soll“) oder Chela genannt. Ein Guru lebt oft in einemAshram. Die Abstammungslinie eines Gurus ist als Guru Parampara („Guru-Tradition“) bekannt und soll von würdigen Schülern, welche die Botschaft ihres Gurus weiterführen, verbreitet werden. Einige Hindu-Glaubensgemeinschaften, wie etwa der Swaminarayan Sanstha, halten daran fest, dass ein persönliches Verhältnis zu einem lebenden Guru notwendig ist, um Moksha, die Befreiung, zu erreichen. Im traditionellen Sinne beschreibt das Wort eine Beziehung. Nur mit „Guru“ reden die Schüler ihren Meister an.
Laut alter hinduistischer Tradition soll man im Laufe seines Lebens idealerweise vier Stufen durchlaufen, von denen die erste die des Veda-Studenten ist (brahmacari), gefolgt von der Stufe des Haushalters und Familienvorstandes, dann von der Stufe eines Waldeinsiedlers und schließlich der des weltentsagenden Wanderasketen, Samnyasin. Der Schüler war seinem Acarya-Guru und dessen Familie durch ein Treuegelübde bis an sein Lebensende verbunden, durfte jedoch mit dessen Einwilligung den Guru wechseln. Dieses System gab das Ideal vor, doch in moderner Zeit praktizierte man es längst nicht mehr. Dagegen gibt es noch heute ein Samskara, die Weihe des männlichen Kindes, das die rituelle „Wiedergeburt“ unter der geistigen Vaterschaft des Gurus markiert. Der Knabe ist dadurch ein „Zweimalgeborener“ (Dvija) und hat Zugang zur vedischen Überlieferung. Früher lebte er für gewöhnlich während seiner Schülerzeit mindestens zwölf Jahre im Hause des Gurus. Zwar durfte der Guru für seine Unterweisungen keine Bezahlung verlangen, doch war es für den Schüler durchaus üblich, zur ökonomischen Basis des Meister-Haushaltes, dem er ja angehörte, durch Arbeiten beizutragen und sich am Ende seiner Lehrzeit mittels eines angemessenen Geschenks zu bedanken. War der Schüler Haushalter geworden, ging sein Sohn nicht selten bei dem gleichen Guru oder bei dessen Nachfolger in die Lehre. Oft war die Guruschaft erblich.
Die Worte des Gurus zu seinem Schüler bei der Aufnahmezeremonie ähneln denen des Bräutigams zur Braut bei der Hochzeit, so wie das Verhältnis des Schülers zum Guru ursprünglich insgesamt dem der Ehefrau zu ihrem Mann, der traditionell als ihr Guru galt, ähnelte. Konsequenterweise gehörten zu den Pflichten des Schülers auch das Erledigen von Hausarbeiten und anderen Diensten, die üblicherweise der Ehefrau zugeteilt werden. Der Schüler hat seinem Lehrer Treue und unbedingten Gehorsam, in den meisten Fällen sogar göttlichen Respekt entgegenzubringen. Gurumord wird wie Elternmord, sexueller Verkehr mit der Frau des Gurus wie Inzest bewertet und hat entsprechende karmische Folgen.
Mit zunehmender Popularität der Asketenbewegung setzte sich der Typ des Samnyasin-Gurus von den anderen Guru-Typen ab. Eine neue Dimension im Autoritätsgefälle zeigte sich in der neu aufkommenden Bezeichnung für den Schüler, Sisya. Während der Acarya-Guru im Prinzip noch fehlbar war und kritisiert werden konnte, da er ja auch als Lehrer der Realwissenschaften auftrat, verkörpert der Samnyasin-Guru den bereits zu Lebzeiten befreiten Jivanmukta, sogar das Absolute, und gilt daher als unfehlbar. Durch Weltentsagung und asketische Disziplin soll er zu übersinnlichen Kräften gelangen und aus eigener Kraft Heil an seine Schüler vermitteln und das in ihnen schlummernde Wissen erwecken können. Der Samnyasin-Guru ist frei von jeglicher Bindung an Kaste und Familie und kann Schüler jeglicher Herkunft aufnehmen. Er lebt oft in enger Gemeinschaft mit seinen Schülern, entweder abseits der Zivilisation auf Wanderschaft oder zurückgezogen in einem Ashram. Da der Weg zur Befreiung manchmal als gefährlich gilt, muss der Guru über besondere erzieherische Fähigkeiten verfügen und darf auch ungewöhnliche Mittel einsetzen, um seinen Schülern die konventionell nicht vermittelbare absolute Wahrheit zu eröffnen.
In der Bhakti- und Tantra-Tradition schließlich gilt der Guru als Avatara (Sanskrit „Herabstieg“), als (Teil-) Verkörperung der Gottheit (Sadguru) und als solcher ihr gleichgestellt oder gar über der Gottheit stehend, als identisch mit der absoluten Wahrheit und dem höchsten Sein. „Der Guru ist Vater; der Guru ist Mutter; der Guru ist der Gott Shiva. Wenn Shiva zürnt, ist der Guru der Retter; aber wenn der Guru erzürnt ist, bleibt niemand zur Errettung.“ (Kularnava-tantra XII, 49, zit. nach Steinmann 1986, 100). Echte Liebe und völlige Hingabe an den Sad-Guru soll nach dem Glauben seiner Anhänger alle Verfehlungen überwinden können. Der Glaube an eine direkte Kraft- und Heilsübertragung vom Sad-Guru auf den Schüler spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Guru ist der Töpfer, der seinen Schüler formt und neu erschafft.
Aufgrund der herausragenden Position des Gurus beschäftigen sich traditionelle Texte auch mit der Problematik des Missbrauchs dieser Autorität und nennen Kriterien wahrer und falscher Gurus.
Die Verwendung des Begriffs „Guru“ kann bis in die frühen Upanishaden zurückverfolgt werden, wo sich die Vorstellung vom göttlichen Lehrer auf Erden erstmals in frühen brahmanischen Vorstellungen zeigte. Tatsächlich gab es ein Verständnis, dass, wenn ein Schüler dem Guru und Gott gegenüber gestellt würde, er zuerst dem Guru Respekt zollen sollte, da der Guru das Instrument sei, den Schüler zu Gott zu führen.
Die Rolle des Gurus im ursprünglichen Sinne des Wortes wird weitergeführt in Hindu-Traditionen wie im Vedanta, Yoga, Tantra sowie dem Bhakti Yoga.

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